Eine von vielen Funktionen der Linie – allerdings eine wichtige – ist der Kontur, d.h. die Begrenzung der Form. Bei Anja Schreys Buntstiftzeichnung tritt die Form, eine überdimensional große Hand, klar erkennbar vor Augen. Diese Form verdankt sich jedoch der Binnenfläche aus unzähligen Kreuz- und Parallelschraffuren, die wie Lasuren schichtweise aufeinander getragen sind und eine subtile Oberfläche bilden. Treten wir nah heran, so entsteht ein Flimmern. Hier verschwindet nicht nur die äußere Form, sondern auch die Gewissheit der Fläche. Die Linie, genauer gesagt der Strich, begegnet uns im Sinne von Auflösung.
Die strenge Kontur hingegen ist für die Arbeiten von Felix Müller kennzeichnend. Ob unter Verwendung von Siebdruck oder durch Schnittkanten am Computer erzeugt: Stets treffen wir bei seinen Arbeiten auf scharfe, begrenzende Linien. In Bezug auf die Form sind diese Linien jedoch fragmentarisch, wir müssen die Figuren ergänzen und mit Irritationen im Formverlauf umgehen. Positiv- und Negativformen, Zeichnung und Malerei unterschiedliche Farbtexturen werden in verschiedenen Schichten miteinander konfrontiert. Rätselhaft bleibt dabei die Story. Das Personal seiner Bilder
legt eine Geschichte nahe, aber diese Geschichte wird dann doch nicht erzählt. Die Linie ist bei Felix Müller an der präzisen wie prototypischen Sprache der Comics orientiert: klar, reduziert, aber immer auch fragmentarisch.
Stärker noch als Felix Müller nutzt Cornelia Renz das Glas als Bildträger. Mit Pigmentstift zeichnet die Künstlerin direkt auf das Acrylglas, mehrere dieser Glasscheiben werden anschließend hintereinander montiert. Cornelia Renz geht insofern installativ mit der Zeichnung um. Ihre Bildelemente entstammen unterschiedlichsten Kontexten und sind spielerisch miteinander kombiniert. Dabei wirken die Arbeiten von Cornelia Renz bedrohlich und verstörend - vielleicht nicht zuletzt deshalb, weil ihre Comicschweine, ihre nackten Frauen auf high heels oder ihre Zentauren mit großer Präzision gezeichnet sind.
Auf ganz andere Weise verstörend sind die Arbeiten von Dorothee Schulz. Deformierte Figuren erscheinen dicht gedrängt, eingezwängt zwischen Sentenzen, assoziierten Sätzen. „Funnel of hell“, so der Titel, sind ins Bild transponierte Protokolle von Stimmen. Dabei rückt die Künstlerin Bild und Text auf engstem Raum collageähnlich aneinander; gleichwohl aber handelt es sich um gezeichnete Blätter. Als eine Art Protokoll ist auch die „Fluse“ von Dorothee Schulz zu verstehen, ein spiralförmiger Trichter. Über eine Zeit von insgesamt 6 Wochen hat die Künstlerin hieran täglich gearbeitet. Die Tusche ist so aufgetragen, dass das Weiß des Grundes stehen bleibt und ein krakeleeartiges Muster bildet. Hier ist die Linie Aussparung von Ereignis und Zeitspur zugleich.
In
der Zeit verlaufende Linien sind auf ganz andere Weise die Rillen von
Vinylplatten. Julia
Brodauf
nutzt die Langspielplatten als Druckträger und vollzieht die Rillen
der Platten nach. Zugleich notiert die Künstlerin aber auch
Songtitel, die auf die Bildende Kunst Bezug nehmen – paint it black
von den Stones sei hier nur ein Beispiel. Beim Schreiben mit der
Radiernadel verwehrt die Rille den glatten Schriftzug, die Schrift
wird unscharf, verzerrt. Der Wettstreit, aber auch die gegenseitige
Würdigung von Kunst und Musik sind hier Thema; Nachvollzug und
Gegenläufigkeit macht sich an der Linie fest.
Die
vorgefundene Linie ist auch für eine Serie zeichnerischer Arbeiten
von Arno
Bojak
hier in der Ausstellung Ausgangspunkt. Er hat Drucke von
Scherenschnitten zugrunde gelegt und entwickelt die klar begrenzten
Formen dieser Scherenschnitte zu offenen Figuren weiter. Seine
Blätter zeigen rätselhafte Fabelwesen und scheinen auf unbekannte
Mythen zu verweisen. Dabei wird die Linie bisweilen durchbrochen und
punktartig fortgesetzt. Nicht die unerwartete Verbindung
verschiedener Kontexte, sondern das Fortschreiben der Linie ist für
Bojaks Blätter charakteristisch. In diesem Fortschreiben der Linie
jedoch formulieren sich neue, ungeahnte Bilder.
Das
Fabulierende der Linie ist für Niki
Elbes
Arbeit „anyway you're not alone“ charakteristisch. Aderähnliche
Strukturen sind in ballonartige Felder eingeschrieben, die Felder
ordnen sich zu einer Art Lebensbaum. Eine Katze, ein Skelett -
zwischendrin klettern comichafte Figuren und treiben ein Spiel, das
wir nicht verstehen. Im „Tassenwagen“ überträgt sie Zeichnungen
auf Keramik und erzählt enigmatische Geschichten.
Im klaren Gegensatz hierzu stehen die technischen Zeichnungen von Jens Becker. Becker beschäftigt sich seit langem mit Teilchenbeschleunigern, wobei ihn insbesondere die rational nicht fassbaren Aspekte dieser Technik interessieren. Er plant eine Installation, die den Raum der Teilchenbeschleunigung simuliert und zugleich erfahrbar macht. Beckers Blätter sind Konzeptionzeichnungen. Die Linien fungieren hier als Vorgaben und zielen auf die Umsetzung konkreter Pläne ab.
Nicht dem Konkreten, sondern dem Unbekannten geht Christian Pilz mit zeichnerischer Akribie auf die Spur. Seine Blätter entwerfen labyrinthische Welten, Konstruktionen, die zumeist von einem Grundmodul, wie zum Beispiel dem Quader, ausgehen. Linie und Strich sind bei Christian Pilz nie zufällig oder fabulierend, sondern folgen klaren, anfangs festgelegten Vorgaben. Die Module, aus denen sich die Blätter entwickeln, liegen auch dort zugrunde, wo sich die Zeichnung in hohem Maße verdichtet, das dahinter liegende System nicht mehr erkennbar ist und sich dem Auge nur noch dunkle Zentren bieten.
auch bereits Linie ist. Die Linien der Worte generieren in dieser Arbeit von Julia Neuenhausen die Form.
Die Arbeiten von Katja Schütt verdanken sich einer Freude am Material und an der Kombination verschiedenster medialer Verfahren; die Zeichnung steht hier im Kontext von Malerei, Druck und Collage. In den Arbeiten ist die Linie Kontur von Binnenflächen, sie bildet die Grenze, an der Disparates zusammentrifft. Kontrastierend überlagern sich Formen und Material; es entstehen psychedelische Landschaften.
Matthias Heidenreich legt Fotografien zugrunde und geht zumeist von Serien stereotyper Bilder aus. Im Zeichnen segmentiert er die Vorlagen und übersetzt die Segmente in Kompartimente unterschiedlicher Schraffur. Die Collage ist bei ihm insofern kein wirkliches Zusammenspiel von Materialien verschiedener Provenienz und unterschiedlichen Charakters, sondern ein Produkt der Zeichnung. Die Linie spielt bei Heidenreich weniger eine Rolle als die Schraffur, und diese Schraffur setzt er in Art der Collage ein.
Alvar Beyers Bilder hingegen sind leere Landschaften und Architekturen. In seinen Arbeiten befragt er geometrische Grundkonstanten und analysiert die Form nach mathematischen Gesichtspunkten. Beyer gewinnt die Linie insofern aus der Reduktion realer Bilder. Seine Arbeiten suchen nach meditativer Ruhe und wirken zugleich symbolisch. Dies wird besonders deutlich am Bild „Weiße Treppe“: mit seinem Goldgrund und den zum Horizont hin fluchtenden Linien.
Katja Pfeiffer schließlich setzt sich in vielen ihrer Arbeiten mit dem urbanen Raum auseinander. Ihre Installation hier in der Ausstellung zeigt mehrere grob ausgesägte und hintereinander gestaffelte Spanplatten. Die Linien der einzelnen Platten ergeben kein Bild, das wir gegenständlich zuordnen könnten. Erst in der Projektion werden diese Linien zusammengeführt: Es entsteht das Bild einer Achterbahn in räumlichen Anschaulichkeit. Katja Pfeffer seziert den Gegenstand und fragmentiert die Linie, um die Fragmente dann wieder neu zusammenzuführen.
In
der Ausstellung überschreitet die Zeichnung nicht selten die Grenzen
des Mediums; sie findet mit der zentralen Orientierung an der Linie
aber immer wieder zu sich selbst zurück. Dabei offenbart die Linie
der Zeichnung hier ihr weit gespanntes Potential: Wir treffen auf die
Präzision der Linie wie auf die Linie in Auflösung, die Linie als
Zeitspur und die Linie als Fragment, die fabulierende Linie und die
Linie als ein herausdestilliertes Konzentrat.
Julia
Brodauf und Felix Müller haben als Untertitel bzw. als Motto der
Ausstellung eine nicht ganz unbekannte Sentenz von Paul Klee gewählt:
„Zeichnen ist die Kunst, Striche spazieren zu führen“. Wenn wir,
wie soeben, den Linien der Arbeiten folgen, so ist dies vielleicht
auch ein Spaziergang, eine forttragende Wanderung, die hier in der
Ausstellung immer neue Aspekte von Zeichnung freigibt. Es ist aber
kein leichter, tänzelnder Spaziergang, wie Klees Worte vielleicht
nahe legen könnten, sondern ein komplexer, materialorientierter und
höchst opulenter.
Claudia
Beelitz
10.
Mai 2013