Dienstag, 28. Mai 2013

may line is my line - Eröffnungsrede von Dr. Claudia Beelitz

Die Ausstellung May line is my line vereinigt 14 aktuelle künstlerische Positionen der Zeichnung. Julia Brodauf und Felix Müller haben sie kuratiert und loten mit der Ausstellung die unerschöpflichen Möglichkeiten des Mediums Zeichnung in einem weit gespannten Rahmen aus. Ihre Auswahl erfolgte nicht nach thematischen Kriterien. Gleichwohl ist der Präsentation eine thematische Ordnung inhärent, die sich beim Gang durch die einzelnen Räume derAusstellung erschließt. Ich möchte in meiner kurzen Einführung nicht der Ordnung der Ausstellung folgen, sondern einen anderen, alternativen Zugang eröffnen; ich möchte nach der Linie fragen. Wie gehen die Künstlerinnen und Künstler der Ausstellung mit der Linie, diesem zentralen Moment, der Zeichnung um? Wie nutzen sie das Potential der Linie?




Eine von vielen Funktionen der Linie – allerdings eine wichtige – ist der Kontur, d.h. die Begrenzung der Form. Bei Anja Schreys Buntstiftzeichnung tritt die Form, eine überdimensional große Hand, klar erkennbar vor Augen. Diese Form verdankt sich jedoch der Binnenfläche aus unzähligen Kreuz- und Parallelschraffuren, die wie Lasuren schichtweise aufeinander getragen sind und eine subtile Oberfläche bilden. Treten wir nah heran, so entsteht ein Flimmern. Hier verschwindet nicht nur die äußere Form, sondern auch die Gewissheit der Fläche. Die Linie, genauer gesagt der Strich, begegnet uns im Sinne von Auflösung.






Die strenge Kontur hingegen ist für die Arbeiten von Felix Müller kennzeichnend. Ob unter Verwendung von Siebdruck oder durch Schnittkanten am Computer erzeugt: Stets treffen wir bei seinen Arbeiten auf scharfe, begrenzende Linien. In Bezug auf die Form sind diese Linien jedoch fragmentarisch, wir müssen die Figuren ergänzen und mit Irritationen im Formverlauf umgehen. Positiv- und Negativformen, Zeichnung und Malerei unterschiedliche Farbtexturen werden in verschiedenen Schichten miteinander konfrontiert. Rätselhaft bleibt dabei die Story. Das Personal seiner Bilder
legt eine Geschichte nahe, aber diese Geschichte wird dann doch nicht erzählt. Die Linie ist bei Felix Müller an der präzisen wie prototypischen Sprache der Comics orientiert: klar, reduziert, aber immer auch fragmentarisch.




Stärker noch als Felix Müller nutzt Cornelia Renz das Glas als Bildträger. Mit Pigmentstift zeichnet die Künstlerin direkt auf das Acrylglas, mehrere dieser Glasscheiben werden anschließend hintereinander montiert. Cornelia Renz geht insofern installativ mit der Zeichnung um. Ihre Bildelemente entstammen unterschiedlichsten Kontexten und sind spielerisch miteinander kombiniert. Dabei wirken die Arbeiten von Cornelia Renz bedrohlich und verstörend - vielleicht nicht zuletzt deshalb, weil ihre Comicschweine, ihre nackten Frauen auf high heels oder ihre Zentauren mit großer Präzision gezeichnet sind.




Auf ganz andere Weise verstörend sind die Arbeiten von Dorothee Schulz. Deformierte Figuren erscheinen dicht gedrängt, eingezwängt zwischen Sentenzen, assoziierten Sätzen. „Funnel of hell“, so der Titel, sind ins Bild transponierte Protokolle von Stimmen. Dabei rückt die Künstlerin Bild und Text auf engstem Raum collageähnlich aneinander; gleichwohl aber handelt es sich um gezeichnete Blätter. Als eine Art Protokoll ist auch die „Fluse“ von Dorothee Schulz zu verstehen, ein spiralförmiger Trichter. Über eine Zeit von insgesamt 6 Wochen hat die Künstlerin hieran täglich gearbeitet. Die Tusche ist so aufgetragen, dass das Weiß des Grundes stehen bleibt und ein krakeleeartiges Muster bildet. Hier ist die Linie Aussparung von Ereignis und Zeitspur zugleich.

In der Zeit verlaufende Linien sind auf ganz andere Weise die Rillen von Vinylplatten. Julia Brodauf nutzt die Langspielplatten als Druckträger und vollzieht die Rillen der Platten nach. Zugleich notiert die Künstlerin aber auch Songtitel, die auf die Bildende Kunst Bezug nehmen – paint it black von den Stones sei hier nur ein Beispiel. Beim Schreiben mit der Radiernadel verwehrt die Rille den glatten Schriftzug, die Schrift wird unscharf, verzerrt. Der Wettstreit, aber auch die gegenseitige Würdigung von Kunst und Musik sind hier Thema; Nachvollzug und Gegenläufigkeit macht sich an der Linie fest.

Die vorgefundene Linie ist auch für eine Serie zeichnerischer Arbeiten von Arno Bojak hier in der Ausstellung Ausgangspunkt. Er hat Drucke von Scherenschnitten zugrunde gelegt und entwickelt die klar begrenzten Formen dieser Scherenschnitte zu offenen Figuren weiter. Seine Blätter zeigen rätselhafte Fabelwesen und scheinen auf unbekannte Mythen zu verweisen. Dabei wird die Linie bisweilen durchbrochen und punktartig fortgesetzt. Nicht die unerwartete Verbindung verschiedener Kontexte, sondern das Fortschreiben der Linie ist für Bojaks Blätter charakteristisch. In diesem Fortschreiben der Linie jedoch formulieren sich neue, ungeahnte Bilder.


Das Fabulierende der Linie ist für Niki Elbes Arbeit „anyway you're not alone“ charakteristisch. Aderähnliche Strukturen sind in ballonartige Felder eingeschrieben, die Felder ordnen sich zu einer Art Lebensbaum. Eine Katze, ein Skelett - zwischendrin klettern comichafte Figuren und treiben ein Spiel, das wir nicht verstehen. Im „Tassenwagen“ überträgt sie Zeichnungen auf Keramik und erzählt enigmatische Geschichten.



Im klaren Gegensatz hierzu stehen die technischen Zeichnungen von Jens Becker. Becker beschäftigt sich seit langem mit Teilchenbeschleunigern, wobei ihn insbesondere die rational nicht fassbaren Aspekte dieser Technik interessieren. Er plant eine Installation, die den Raum der Teilchenbeschleunigung simuliert und zugleich erfahrbar macht. Beckers Blätter sind Konzeptionzeichnungen. Die Linien fungieren hier als Vorgaben und zielen auf die Umsetzung konkreter Pläne ab.

Nicht dem Konkreten, sondern dem Unbekannten geht Christian Pilz mit zeichnerischer Akribie auf die Spur. Seine Blätter entwerfen labyrinthische Welten, Konstruktionen, die zumeist von einem Grundmodul, wie zum Beispiel dem Quader, ausgehen. Linie und Strich sind bei Christian Pilz nie zufällig oder fabulierend, sondern folgen klaren, anfangs festgelegten Vorgaben. Die Module, aus denen sich die Blätter entwickeln, liegen auch dort zugrunde, wo sich die Zeichnung in hohem Maße verdichtet, das dahinter liegende System nicht mehr erkennbar ist und sich dem Auge nur noch dunkle Zentren bieten.


Julia Neuenhausen geht mit der Linie dem Imaginerten nach. In ihrem Blatt „Zentralorgan“ legt sie den Rohrschachtest zugrunde, zeigt ein Hirn landkartenähnlich und beschreibt sprachlich diverse Funktionen, die sie über Linien spezifischen Orten auf dem Blatt zuordnet. Bei einer anderen Arbeit bilden Worte Linien – die Linie verschmilzt hier mit der schriftsprachlichen Beschreibung, die ihrerseits ja
auch bereits Linie ist. Die Linien der Worte generieren in dieser Arbeit von Julia Neuenhausen die Form.

Die Arbeiten von Katja Schütt verdanken sich einer Freude am Material und an der Kombination verschiedenster medialer Verfahren; die Zeichnung steht hier im Kontext von Malerei, Druck und Collage. In den Arbeiten ist die Linie Kontur von Binnenflächen, sie bildet die Grenze, an der Disparates zusammentrifft. Kontrastierend überlagern sich Formen und Material; es entstehen psychedelische Landschaften.




Matthias Heidenreich legt Fotografien zugrunde und geht zumeist von Serien stereotyper Bilder aus. Im Zeichnen segmentiert er die Vorlagen und übersetzt die Segmente in Kompartimente unterschiedlicher Schraffur. Die Collage ist bei ihm insofern kein wirkliches Zusammenspiel von Materialien verschiedener Provenienz und unterschiedlichen Charakters, sondern ein Produkt der Zeichnung. Die Linie spielt bei Heidenreich weniger eine Rolle als die Schraffur, und diese Schraffur setzt er in Art der Collage ein.


Alvar Beyers Bilder hingegen sind leere Landschaften und Architekturen. In seinen Arbeiten befragt er geometrische Grundkonstanten und analysiert die Form nach mathematischen Gesichtspunkten. Beyer gewinnt die Linie insofern aus der Reduktion realer Bilder. Seine Arbeiten suchen nach meditativer Ruhe und wirken zugleich symbolisch. Dies wird besonders deutlich am Bild „Weiße Treppe“: mit seinem Goldgrund und den zum Horizont hin fluchtenden Linien.

Katja Pfeiffer schließlich setzt sich in vielen ihrer Arbeiten mit dem urbanen Raum auseinander. Ihre Installation hier in der Ausstellung zeigt mehrere grob ausgesägte und hintereinander gestaffelte Spanplatten. Die Linien der einzelnen Platten ergeben kein Bild, das wir gegenständlich zuordnen könnten. Erst in der Projektion werden diese Linien zusammengeführt: Es entsteht das Bild einer Achterbahn in räumlichen Anschaulichkeit. Katja Pfeffer seziert den Gegenstand und fragmentiert die Linie, um die Fragmente dann wieder neu zusammenzuführen.

In der Ausstellung überschreitet die Zeichnung nicht selten die Grenzen des Mediums; sie findet mit der zentralen Orientierung an der Linie aber immer wieder zu sich selbst zurück. Dabei offenbart die Linie der Zeichnung hier ihr weit gespanntes Potential: Wir treffen auf die Präzision der Linie wie auf die Linie in Auflösung, die Linie als Zeitspur und die Linie als Fragment, die fabulierende Linie und die Linie als ein herausdestilliertes Konzentrat.
Julia Brodauf und Felix Müller haben als Untertitel bzw. als Motto der Ausstellung eine nicht ganz unbekannte Sentenz von Paul Klee gewählt: „Zeichnen ist die Kunst, Striche spazieren zu führen“. Wenn wir, wie soeben, den Linien der Arbeiten folgen, so ist dies vielleicht auch ein Spaziergang, eine forttragende Wanderung, die hier in der Ausstellung immer neue Aspekte von Zeichnung freigibt. Es ist aber kein leichter, tänzelnder Spaziergang, wie Klees Worte vielleicht nahe legen könnten, sondern ein komplexer, materialorientierter und höchst opulenter.

Claudia Beelitz
10. Mai 2013